Chile
Erste Frühlingstage in Santiago de Chile
Die Hauptstadt des Andenlandes erinnert an die Verbrechen
und den Sturz von Pinochets Militärdiktatur
"Werktätige meines Vaterlandes! Ich glaube an Chile und sein Schicksal. Es werden andere Chilenen kommen. In diesen düsteren und bitteren Augenblicken, in denen sich der Verrat durchsetzt, sollt ihr wissen, dass sich früher oder später, sehr bald, erneut die großen Straßen auftun werden, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht. Es lebe Chile! Es lebe die Bevölkerung! Es leben die Werktätigen! Das sind meine letzten Worte, und ich habe die Gewissheit, dass mein Opfer nicht vergeblich sein wird. Ich habe die Gewissheit, dass es zumindest eine moralische Lektion sein wird, die den Treuebruch, die Feigheit und den Verrat verurteilt.“
Die letzten Worte des demokratisch gewählten Präsidenten Chiles Salvador Allendes am 11. September 1973 um 11 Uhr
in der Rundfunkansprache auf Radio Magellan
In den letzten Septembertagen 2015 ist die Hauptstadt von Chile noch überall mit den Nationalflaggen geschmückt. Das Land feiert am 18. September seinen Nationalfeiertag Dieciocho und die vor mehr als 200 Jahren erkämpfte Unabhängigkeit von Spanien.
Santiago de Chile – Blick vom Cerro San Cristobal
Aber die Chilenen erinnern sich in diesem Monat noch an einen anderen Tag. Vor 42 Jahren am 11. September 1973 wurde Präsident Salvador Allende durch einen Militärputsch mit tatkräftiger Unterstützung der CIA gestürzt.
Bis zum März 1990 herrschte unter dem General Pinochet eine brutale Militärjunta, deren Verbrechen in einem mühevollen Prozess über viele Jahre nun öffentlich gemacht und einige der Täter sogar verurteilt werden. Bummelt der Tourist durch Santiago, kann er dramatische und ganze entscheidende Seiten der Geschichte des Landes entdecken.
Quirlige Metropole Santiago
Die Hauptstadt Santiago hat Ende September dieses Jahres in den ersten Frühlingstagen meist kühles Wetter mit Regenwolken und ein paar Sonnenstrahlen zu bieten. Hoch aufschießende Wohnsilos, gepflegte Villen, summender quirliger Straßenverkehr auf breiten Hauptstraßen mit fünf Fahrspuren in einer Richtung und weitläufige schon grüne Parkanlagen prägen das Bild der sieben Millionen Metropole. Wolkenkratzer, zwischen denen sich ganz schmale Gassen hindurch schlängeln, signalisieren auch hier das Bank- und Finanz-Zentrum von Santiago. In Anspielung auf Manhattan wird es von den Einwohnern nur Sanhattan genannt. Und natürlich finden sich in Santiago auch die ehrwürdigen alten Kolonialbauten.
Wachablösung vor der Moneda
Mitten im Zentrum steht der Ende des 18. Jahrhunderts errichtete riesige Palast Moneda. Die frühere spanische Münzprägestätte war später der Regierungssitz der jeweiligen Präsidenten von Chile.
Vor 42 Jahren gingen die dramatischen Bilder der Bombardierung und die letzten Worte von Präsident Allende in einer Radioübertragung um die Welt. Gegenwärtig findetvor diesem Palacio alle zwei Tage immer Vormittags eine pompöse militärische Wachablösung mit Soldaten zu Pferde statt. Trotz Nieselregen haben sich zahlreiche Touristen und ein paar Passanten eingefunden. Hier wird nun die chilenische Variante eines militärischer Aufzuges vorgeführt, die einiges über das Land erzählt.
Der Palast Moneda
Vor und nach dem ersten Weltkrieg habe sich durch deutsche Ausbilder – so zu lesen - eine Fülle von deutschen Militärtraditionen in Chile verwurzelt und sind bis heute erhalten geblieben. Das Exerzierreglement der Anden-Republik entspricht in weiten Teilen dem preußisch-deutschen, so heißt es. Ebenfalls übernommen wurde der preußische Stechschritt für Paraden sowie eine Vielzahl von Militärmärschen. Da durfte man gespannt sein.
Denkste denn, du Berliner Pflanze...
Zunächst sind mitten in diesem feierlichen Appell der Soldaten ein halbes Dutzend streunender Hunde unterwegs, an denen sich scheinbar niemand stört. Sie laufen mit wedelnden Schwänzen zwischen den Pferden und an den in Reih und Glied stehenden Soldaten vorbei.
Der Palast Moneda
Dann sieht man unter den angetretenen Soldaten des Wachregiments auch Amazonen, weibliche Soldaten, die sogar von Zeit zu Zeit ihren umgehängten Säbel ziehen. Bei diesem Anblick würden die Rheinländer nur an den Kölner Karneval denken. Und mancher wackere Preuße von Schrot und Korn mit Traditionsbewusstsein würde spätestens jetzt erste Schweißausbrüche bekommen.
Aber es gibt noch eine Steigerung für eingefleischte Bewunderer von preußisch militärischem Schmiss. Da ist die Musik, die die Militärkapelle intoniert. Ein bekanntes Liebeslied aus Puerto Montt klingt über den Platz, dann ist plötzlich ein Musikstück mit dem Brazil-Sound zu hören und der El Lobo Marino Walzer nimmt Fahrt auf. Schließlich beendet die Militärkapelle ihr Programm mit dem Petersburger Marsch, der heute in Deutschland nur als Berliner Gassenhauer bekannt ist, mit solchen Textzeilen: Denkste denn, denkste denn, du Berliner Pflanze, denkste denn, ick liebe dir, nur weil ick mit dir tanze.
In dieser südamerikanischen Variante macht Preußens Gloria noch richtig Spaß. „Alle zwei Tage wird dieses Schauspiel gegeben“, sagt unsere chilenische Reiseführerin Mehar Tellez (i. B. l.). „Einzige Unbekannte dabei ist die Anzahl der herrenlosen Hunde, die aktiv mitmachen. Manchmal haben einige der Vierbeiner“, so Mehar Tellez, „sogar während der halbstündigen Zeremonie pausenlos gejault und gebellt.
Aber auch daran will sich niemand stören.“ Ein neues Image des Militärs von Chile nach der blutigen Herrschaft von General Pinochet?
Der Platz der Konfusion
Ebenfalls im Zentrum der Stadt gleich neben der Moneda erzählt der Placa Constitucion, der Platz der Verfassung des Landes, seinen Teil der Geschichte von Chile. An seinen vier Ecken stehen vier Statuen. Der Volksmund nennt diesen Ort den Platz der Konfusion. Denn derzeit stehen hier Skulpturen von vier historischen Persönlichkeiten, die einen Beitrag zur Verfassung des Landes leisteten. Einer davon ist der konservative Präsident Jorges Allessandri, der eines natürlichen Todes starb.
Doch alle drei anderen Politiker haben es mit ihrem Leben bezahlt. Da ist Diego Portales, ein früherer Innenminister aus dem 19. Jahrhundert. Er wurde von seinen Gegnern ermordet. Und seit 1990 stehen hier auch ein Denkmal für Eduardo Frei, einem ehemaligen Präsidenten, der in einer Klinik in der Pinochet-Zeit umgebracht wurde und ein Denkmal für Salvador Allende, der am Tage des Putsches in seinem Amtssitz den Tod fand.
Da taucht sie schon wieder in Santiago auf, die jüngere Geschichte. Reiseführerin Mehar Tellez zeigt mir im Gesicht der Skulptur von Diego Portales das kleine Einschussloch einer Kugel. „Es stammt von dem Tag im September 1973, als Soldaten die Moneda beschossen, in der sich Salvador Allende aufhielt. Die Chilenen haben diese Zerstörung nicht ausgebessert. Es ist eine Erinnerung.“
Die zwei Generals-Töchter
Mehar Telles erzählt auch von den zwei Generals-Töchtern, deren Väter, Alberto Bachelet und Fernando Matthei Gegner waren. Auch Michele Bachelet und Evelyn Matthei stehen heute in unterschiedlichen Lagern. Michele ist die heutige Präsidentin, deren Vater während der Pinochet-Diktatur gefoltert und ermordet wurde. Evelyn ist Kandidatin des Mitte Rechts-Bündnisses. Michele Bachelet musste emigrieren und absolvierte zwei Jahre ihres Medizin-Studiums an der Berliner Humboldt-Uni in der DDR.
Vor vielen Jahren anlässlich der Verleihung einer Ehrendoktorwürde an ihrer alten Uni sagte sie der Uni-Zeitung:„Meine Schwestern haben mich immer gefragt, wie ich als Ärztin dazu komme, Ministerin und schließlich Präsidentin der Republik zu werden. Ich denke, dass sich in diesem Virchow-Zitat sehr gut mein Wunsch ausdrückt, der Allgemeinheit und den anderen zu dienen, da zu sein für die Menschen in ihrem Schmerz. Das hat auch viel mit meiner Haltung als Präsidentin zu tun.“ Spannende Geschichte.
Historisches Gedächtnis der Diktatur
Die Stadt Santiago beherbergt viele Museen. Es sind die bevorzugten Ziele der Touristen für Regentage. Eines der jüngsten Museum wurde im Oktober 2010 eröffnet. Das Gebäude mit moderner Architektur trägt den schlichten Titel: „Museum für Freiheit und Menschenrechte“. Es beschäftigt sich in einem Mix aus Text-, Film- und Tondokumenten mit der jüngsten Geschichte Chiles, der Militärdiktatur von 1973 bis 1989.
Das Museum orientiert sich in seiner Präsentation in erster Linie an den Berichten der chilenischen Wahrheitskommissionen, die das Schicksal der „Verschwundenen“ und Ermordeten sowie zahlreicher Folteropfer während der Diktatur General Pinochets dokumentierten. Die Berichte sind wesentlicher Bestandteil eines quasi offiziellen historischen Gedächtnisses im Chile nach Pinochet.
Im weiten Eingangsfoyer werden auf einer Landkarte Fotografien der zahlreichen lokalen Erinnerungsstätten in Chile gezeigt, von Arica an der peruanischen Grenze bis Punta Arenas an der Magellanstraße. Und schließlich schaut der Besucher auf schier endlos viele rote Lichtpunkte. Sie zeigen alle unter der Diktatur existierenden Folter- und Haftzentren an. Der Umfang des Horrors ist unfassbar.
Historisches Gedächtnis
Kompromisse lassen Fragen offen
Kein anderes Land in Lateinamerika hat bisher von staatlicher Seite der Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit so prominenten Platz eingeräumt. Dieses Museum wird zwar vom chilenischen Staat gefördert und finanziert, ist jedoch keine staatliche Einrichtung. Der Träger ist ein Zusammenschluss verschiedener ziviler Menschenrechts-Organisationen, der über ein Direktorium alle inhaltlichen Entscheidungen trifft. Damit ist das Museum der Ausdruck eines Kompromisses zwischen verschiedenen Sichtweisen auf die Diktatur und auch deren internationaler Unterstützer und Nutznießer. Viele Fragen bleiben unbeantwortet.
Erinnerungsstätten in Chile
So verspüre ich als deutscher Tourist ein beklemmendes Gefühl, wenn die nachweislich unterschiedlichen offiziellen Haltungen der BRD und der DDR zur Pinochet-Diktatur überhaupt keine Rolle spielen. Statt dessen gibt es in der Betrachtung des Zeitraumes von 1973 bis 1990 nur „ein Deutschland“.
Allendes Vermächtnis noch nicht erfüllt
Einer der Schlusspunkte des Museums entlässt den Besucher nach all den Grausamkeiten etwas versöhnlich. Da ist einmal die letzte Rundfunk-Ansprache von Allende, gehalten aus der brennenden Moneda. Und gleich in den folgenden Museumsräumen wird der Zusammenbruch des Pinochet-Regimes durch das Referendum von 1988 vorgeführt.
„Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit glaubte Pinochet und seine Militärclique, er kann unbeschadet uns, die chilenische Bevölkerung in einem Referendum befragen, ob er weitere acht Jahre seine Präsidentschaft fortführen kann“, so erinnert sich Mehar Tellez. „Es stand zur Wahl 'Si' oder 'No'. Und wir haben ihn einfach mit 56 Prozent abgewählt.“ Im Museum läuft dazu mit lauter Musik symbolhaft dazu der gegen Pinochet gedrehte legendäre politische Film „No“.
Der Eintritt im Museum ist frei. Der Audioguide kostet nur die geringe Summe von 2000 Pesos. Es gibt 70 Stationen, daher sollte der Besucher viel Zeit mitbringen.
Und es ist erstaunlich und erfreulich, wie viele Besucher diese Ausstellung im Museum hat. Hierher kommen nicht allein Touristen, sondern sehr viele Chilenen. Unter dem Publikum ist auch eine ganz große Zahl junger Leute - das empfinde ich als wichtig. Denn das Vermächtnis des Sozialisten und Idealisten Salvador Allende ist noch lange nicht erfüllt.
Text und Fotos: Ronald Keusch, November 2015
Anmerkung: Klicken Sie zur Vergrößerung aller Fotos im Beitrag auf selbige.
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